Intermusik 2/ 2004

 

Eine Reminiszenz von Gerhard Meyer

Nürnberg. "Musik erlernen, nicht nur ein Instrument technisch beherrschen, die energetische Einheit des menschlichen Körpers aktivieren, Physis und Psyche entdecken, erschließen und nutzbar machen." So könnte man die Zielsetzung des Meiserkurses für Akkordeonisten in der Hochschule für Musik in Nürnberg im Dezember vergangenen Jahres unter der Leitung von Prof. Wladimir Bonakow aus Moskau nennen.
Die ergebnisse internationaler Wettbewerbe führen zu der Frage, ob Lehre und Praxis, Didaktik und Pädagogik der deutschen Akkordeonszene im internationalen Vergleich bestehen können. An einigen Schwerpunkten des Landes mag sich diesbezüglich einiges positiv bewegt haben.
Die Praxis an den Hochschulen ist jedoch eher unübersichtlich und lediglich Insidern bekannt. In der allgemeinen Unterrichtsliteratur wird diese These nur am Rande behandelt, wenn überhaupt, und suggeriert dann weitestgehend Optimismus ... "das machen wir mit links".
Man ist erstaunt, daß ausgerechnet der kleine, aber auch feine Fachbereich der Musikhochschule Nürnberg unter der Leitung von Irene Urbach sich bemüht, mentale Defizite zum Inhalt eines Meisterkurses zu machen. Alljährlich werden Meisterkurse mit dem speziellen Inhalt der Erweiterung mentaler Basisarbeit zur Lösung von Schwierigkeiten beim Akkordeonstudium angeboten.
Prof. Wladimir Bonakow, als Komponist und Bajan-Virtuose sowie als hervorragender Didaktiker und Pädagoge bekannt, lehrt mit seinem Assistenten Iwan Sokolow den eher vernachlässigten Stoff, holt ihn ins Bewußtsein (zurück). Wohl wissend, welche Kapazitäten der Fachbereich anzubieten hatte, waren überwiegend Studenten osteuropäischer Herkunft erschienen - unter ihnen überwiegend junge Damen.
Bei der heranwachsenden Garde setzt sich hierzulande das Knopfinstrument, das Bajan-Ákkordeon, gegenüber dem Instrument mit Klaviertasten nur langsam durch. Der offensichtlich höhere Aufwand bei den Tasten-Instrumenten gegenüber den Knopf-Istrumenten wird wohl gewohnheitsmäßig ausgeglichen (wie beim Beibehalten eines nicht optimalen Fingersatzes).
Die Arbeitswoche wurde mit einem musikalisch ausgesprochen beachtenswerten Konzert abgeschlossen. Von alter zu neuer Musik reichte das Repertoire der beiden Virtuosen: von J. S. Bach (Badinerie, BWV 1066) und D. Scarlatti (Sonaten), über Rachmaninow (italienische Polka) und Piazzola (Libertango) bis zu Petri Makkonen (Flight beyond time).
Dezidiert artikuliert Prof. Bonakow seine pädagogischen Prinzipien ganzheitlich: "Mensch und Musik als Teile in der Kultur. Man lernt nicht ein Instrument, sondern Musik. Psyche und Physis werden gleichermaßen angesprochen ...". So formulierte er es auch in seiner Schrift "Überlegungen zur Kunst der musikalischen Interpretation". Er postuliert "... beide Händer und alle Finger einzusetzen. Die Verbindung ist physiologisch und psychologisch zu sehen. Wenn wir beide Hände und alle Finger zusammennehmen, konzentrieren wir uns auf unseren Willen, sind aufmerksam gespannt und zum Spiel bereit."
Für den Solisten stellt sich da keine Frage. Hingegen ist der Orchesterspieler mit seinem für gewöhnlich "einhändigen" Spiel durchaus angesprochen. Die "stille" Linke ist auch irgendwie verschenkte Musik, abgesehen von der vernachlässigten Kleinmotorik (ergonometrische Verkümmerung) der Spielerhände.
Die Russen haben das "Volksinstrument" Akkordeon zum vollwertigen Konzertinstrument entwickelt. Während man dort das Bajan-Akkordeon (mit Konverter-Technik und Melodiebässen) vervollkommnete, konnte man andernorts - in Deutschland - den Standpunkt vertreten sehen, daß die Leute jene Instrumente spielen sollen, die "wir" bauen.
Vielleicht bewältigen die von der traditionsreichen Firma aus Trossingen gesponserten Musiker in St. Petersburg das Problem der linken Hand im Orchester, oder landen bei "Soundvariations" und Jazz und Pop. Notenkenntnisse nur eingeschränkt notwendig, von Elektronik und gesundheitsgefährdenden Lautstärken gekennzeichnet. Eine Paralysierung der Kultur, marktwirtschaftlich bedingt. Billigen wir mildernde Umstände zu. Es könnte aber auch ein kompositorisches Problem sein. Wie wäre es mit einem Komponistenwettbewerb, finanziert durch den musikalisch-kommerziellen Bereich?
Festzustellen ist, daß die Unterschiede zwischen Ost und West ganz erheblich sind. Man hatte es dort aber auch leichter ... Dort wurde ganzheitlich geplant: Arbeit am musikalischen Werk und Entwicklung einer persönlichen Beziehung zum Werk, Notenliteratur, Instrumentenbau, Didaktik und damit auch die Persönlichkeitsbildung der Musikanten. Dort wurde die gesetzliche Ehe zwischen westeuropäischer Fuge und dem russischen Volkslied in Aneignung von Generation zu Generation in Übernahme von Erfahrung und Verarbeitung dekretiert (Friedrich Lips). Die Komponisten wurden angewisen, keinen anderen musikalischen Stil zu verwenden, der avancierter sei als der des Sergej Rachmaninow. Der war zwischenzeitlich nach Amerika emigriert. Damit wurde gleichzeitig die Freiheit der Komposition eingeschränkt und ein Riegel gegen "antikünstlerische" Musikliteratur von schablonenhaften, analphabetischen Bearbeitungen von Volksmelodien, primitiven Auslegungen bekannter Komponisten oder Stücken wenig professioneller Komponisten vorgeschoben" (Bonakow). Und war von Erfolg gekrönt.
Instrumentenbau, qualifiziertes Lehrpersonal, spezielle Lehrmethoden für Akkordeon, Lehrspielstätten: Man konnte und kann sich auch heute einen strenge Prüfungsauslese leisten. In Deutschland vorwiegend als absatzträchtige Massenobjekte im Kontext einer ökonomisch-firmenpolitischen Entwicklung (Thomas Eickhoff 1991) behandelt, ist heute der bestehende Bruch (Schmülling) kaum zu heilen.
Ziele wie Lernstoff und Intensität eines Meisterkurses unterscheiden sich nicht unwesentlich von dem, was der Laienmusiker im Alltag betreibt. Von den Ausbildungsstätten geht die Vervollkommnung der Musik aus.
Der musikalisch Interessierte musiziert in Gruppen, Orchestern, fügt sich ein in ein allgemeines Leistungsvermögen, verhält sich gruppenkonform (fällt manchmal unangenehm auf, hat geübt). Gruppen bilden denn auch oft die wenig effektive Form der Aus- und Weiterbildung mit kleinstem gemeinsamen Nenner. Das Bemühen der Harmonikaverbände um neue didaktische Verfahren, Stile usw. ist evident. Es ist eingebunden in die allgemeinen kulturellen Bedingungen. Und ob sich beabsichtigte allgemeine Multiplikator-Effekte erzielen lassen, hängt von den Teilnehmern der veranstalteten Seminare ab.
Den Überlegungen zur musikalischen Interpretation von Prof. Bonakow kann man hier flächendeckend nur in Einzelfällen gerecht werden. Insoweit: Deutschland ein Entwicklungsland, "Pisa" läßt grüßen. "Es wird nichts gegeben, wenn ich bloß bequem und erleichtert mitschwinge" (Ernst Bloch), "Gemütserlustigung hat vorausgegangene Mühe zur Bedingung" (Jean Paul).

 

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